EU erfahren
Mit allen Sinnen und dem Fahrrad

„Lassen Sie uns das Weite suchen“ – so bemühte sich die Klasse von Marne Benedetti um Unterstützung für ihr Langzeitprojekt, denn an der Max-Brauer-Schule wählt jede fünfte Klasse ein Langzeitprojekt, das zwei Jahre vorbereitet und in Klasse sieben umgesetzt wird. Sie wollten Europa erfahren – und das im wahrsten Sinne des Wortes. Drei Wochen Europa und das mit dem Fahrrad! Als es nach zwei Jahren Planung, Organisation und Sparen endlich soweit war, startete die Klasse in Hamburg-Altona. Von dort ging es in die Niederlande, nach England und zurück durch Dänemark. Was die 25 Schülerinnen und Schüler alles erlebt, gesehen und welche Erfahrungen sie gemacht haben, erfahren Sie im Nachbericht von Marne Benedetti:

EU erfahren – Mit allen Sinnen und dem Fahrrad
Hamburg – Bremen – Osnabrück – Amsterdam – London – Billund – Sylt – Hamburg

Als Anfang 2013 klar wurde, dass ich eine 5. Klasse übernehmen würde, konkurrierten sehr schnell zwei Gedanken in meinem Kopf: wie schaffe ich es, eine angenehme Klassengemeinschaft herzustellen und was machen wir wohl als Langzeitprojekt.

17-16_Europa-erfahren_Londongruppe

Nun haben wir bereits das Bergfest der Mittelstufe erreicht und ich schaue auf drei angenehme und schöne Jahre zurück. Zudem können wir seit dem Herbst aber auch auf ein erfolgreiches Langzeitprojekt zurückblicken. Was als europäische Kennenlerntour geplant war – mit sportlichen und sprachlichen Herausforderungen – könnte, aus politischer Sicht, zur Abschiedstour werden: Kurz nach unseren ersten Planungen im Jahr 2014 wurde die Europäische Union mit der Unterbringung hunderttausender Flüchtlinge auf die Probe gestellt und scheitert als Kollektiv bis heute kolossal an dieser Verpflichtung. Viele Mitgliedsstaaten verfielen in Egoismus gefolgt von Protektionismus. Merkels vorletzter Rettungsslogan: „Wenn der Euro scheitert, scheitert Europa.“ war nie überzeugend, die derzeitige Lage offenbart aber, dass der Euro scheitern wird, wenn Europa scheitert. Der Britische EU-Austritt stellt vermutlich erst den Anfang einer langen und aufreibenden Zerreißprobe des erfolgreichsten Friedensprojekts unserer Geschichte dar, deren Ausgang alles andere als eindeutig ist.

Dem entgegen stehen die Erfahrungen, die wir auf unserer Fahrradtour durch Europa machen durften. Wo wir auch waren, wir trafen freundliche und weltoffene Menschen, die uns mit offenen Armen und geöffneten Herzen empfingen. Sie stellten uns eine Unterkunft zur Verfügung, führten uns zu Sehenswürdigkeiten und durch Museen und nahmen sich für Gespräche mit uns Zeit. Diese Offenheit ist die Basis eines erfolgreichen Europas.

Ich war aber auch von unserer Klasse beeindruckt. Wir sind als Gruppe zusammengewachsen, haben zusammen die teilweise 90 Km langen Fahrradetappen gemeistert, haben uns immer wieder an die verändernden Rahmenbedingungen angepasst und sind ohne größere Probleme durch die drei Wochen geradelt. Vor allem hatten wir aber auch die Aufmerksamkeit und die Muße, nicht nur um uns als Gruppe zu kreisen, sondern konnten uns auch auf unsere Umwelt konzentrieren und mit ihr interagieren.

Die gesammelten Erinnerungen sind so vielfältig, dass hier gar nicht genug Platz zur Verfügung steht, alles zu erzählen. Soll ich vom Apfelklauen im Alten Land („Ruckzuck über’n Zaun“) berichten? Oder von unserem Gespräch mit einem Wandergesellen, der es bis nach Hawaii schaffen will; von einer Bäuerin, deren Motto „aushalten, durchhalten, Maul halten“ wir – mit einem Augenzwinkern – für die ganz harten Fahrradetappen übernommen haben. Vielleicht berichte ich von den zwei Studenten, die in Harwich gestrandet waren und die wir nach London mitnahmen, oder von den beiden Abiturientinnen, die ebenfalls mit dem Fahrrad bis nach Irland wollten, um dort ein Jahr zu arbeiten. Vielleicht vom Manager eines Pflegedienstes, der wöchentlich zwischen Billund und London pendelt und sich um den Brexit Sorgen macht. Oder soll ich doch lieber über unseren Aufenthalt in Amsterdam berichten, das man auf dem Fahrrad ganz neu kennenlernt, oder von der Beklommenheit, wenn man Anne Franks tatsächliches, echtes Versteck vor sich sieht und zu verstehen beginnt, was Flucht und Vertreibung und Völkermord bedeutet und wie wichtig es ist, zu helfen.

All diese Erlebnisse sind mit Geschichten verknüpft, die bleiben werden und uns verändert haben. Aber für mich ganz sticht ein Erlebnis ganz besonders heraus. An unserem letzten Tag auf Sylt – traumhaftes Wetter: Sonne, leichter Wind, 21°. Nach dem Frühstück spielten wir zusammen am Strand Volleyball. Irgendwann wollten wir uns dann im Meer abkühlen und während wir durch den Sand Richtung Brandung rannten, tauchten plötzlich zwei Walrücken mit ihren typischen Flossen direkt vor uns auf. Für die nächsten Minuten konnten wir die beiden Schweinswale dabei beobachten, wie sie unbekümmert die Küste entlang schwammen. Für mich persönlich war dies die kostbarste Erfahrung des Projekts. Vielleicht wird es in einigen Jahren viel schwieriger werden, solch ein grenzüberschreitendes Projekt durchzuführen. Daher hoffe ich sehr, dass der Vorstoß aus Teilen der EUKommission, jedem EU-Bürger zum 18. Geburtstag ein dreiwöchiges Interrail-Ticket zu schenken, umgesetzt wird. Es gilt weiterhin: Erfahrungen sind wie Apfelkuchen – am besten selbstgemacht. Erfahrt die EU, mit allen Sinnen (und am besten mit dem Fahrrad).

Dieses Projekt wurde durch die Elisabeth-Kleber-Stiftung gefördert (2016).